Nach einem langen Abend mit Cocktails und kleinen Häppchen, bei einer Neueröffnung für ein Hauptstadt-Büro in Berlin, bei dem fast alle sich selbst gespielt haben, dachte ich über Minderwertigkeitskomplexe nach. Unzählige Menschen unterhielten sich über irgendwelche total oberflächlichen Sachen, um sich selbst zu beweisen, wie tiefgründig sie doch sind. Obwohl ich mir selbst sehr befremdlich in der Situation vorkam, spielte ich das Spielchen mit. Mal gab ich vor eine Journalistin zu sein, dann eine fleißige BWL-Studentin und irgendwann auch die Nahost-Expertin. Doch irgendwie wollte das niemand hören. Alle wollten „die Rollstuhlfahrerin“ haben.
Um fair zu bleiben, muss ich aber auch sagen, dass ich die einzige an diesem Abend war, die ihre vier Räder nicht vor der Tür geparkt hat, sondern im Raum dabei hatte. Ich war ohne es zu wollen, das Highlight. Wie gewohnt musste ich auf die anderen Leute zugehen, da die Menschen oft zu sehr damit beschäftigt sind mich anzustarren, statt mich anzusprechen. Letztendlich lief alles auf die eine Frage hinaus. „Darf ich fragen, warum Sie im Rollstuhl sitzen?“ Nach dem ich die Frage zum 10. Mal hörte, war ich kurz davor zu antworten: „Ach ich fand es so viel gemütlicher. Schließlich trage ich schon den ganzen Abend diese hohen Schuhe.“ Doch ich verkniff mir diese Antwort. Ich war schließlich die heimliche Behindertenbeauftragte des Abends.
Nach dem ich glaubte betrunken genug zu sein, sprach ich noch mal mit dem Redakteur des Nachrichtenmagazins. Ich wollte ihn fragen, warum ihre Gastautoren keinen Cent für ihre Arbeit bekommen, weshalb meine Überschriften ständig geändert werden und warum es heutzutage so schwierig ist Wahrheit von Meinung zu unterscheiden. Bevor ich all das ansprechen konnte, fragte er: „Frau Jaafar, Sie studieren doch BWL?“ Irritiert bejahte ich diese Frage. „Die Texte, die Sie für uns schreiben, sind aber sehr politisch.“ Zwar wusste ich nicht was er damit sagen möchte, aber ich hörte aufmerksam zu. „Wieso schreiben Sie für uns nicht mehr über ihr Leben als Rollstuhlfahrerin?“ Heimlich rollte ich meine Augen und erzählte ihm von meiner Kolumne und das ich bewusst meine politischen Texte von meinen Rollstuhlfahrer-Texten strikt trenne. „Es wäre super, wenn Sie für uns dasselbe machen würden.“ Er verstand nicht, was ich mit „trennen“ meinte. Trotzdem lächelte ich höfflich, um endlich gehen zu können. Es war einfach schon zu spät, um ihm zu erklären, wie schwierig es ist, als Rollstuhlfahrerin nur die Expertin für das Leben mit Handicap zu sein.
Als ich endlich durch die Tür ging und die restliche „irgendwas mit Medien Klientel“ sich auch verabschiedete, wollte ich nur noch in meinen Pyjama schlüpfen. Schließlich trug in Berlin gefühlt fast jeder Zweite eine Jogginghose. Während ich rauchend darauf wartete, endlich abgeholt zu werden, fragte ich mich selbst, warum ich unbedingt als mehr wahrgenommen werden will, als nur als Rollstuhlfahrerin? Auch wenn das arrogant klingt, aber ich weiß doch genau was ich draufhabe. Warum möchte ich die Bestätigung von Fremden? Habe ich etwa auch Minderwertigkeitskomplexe? Schließlich stelle ich mich bei dieser Veranstaltung selbst zur Show. Fakt ist, dass alle Menschen, die von vielen Leuten gesehen und gehört werden wollen, einen Minderwertigkeitskomplex haben. Ich unterstelle jetzt einfach mal, dass jeder Mensch irgendwann diese Komplexe hat oder hatte. Die Frage ist nur, wann wird es zu viel?
Es war für mich schon immer wichtig, weder von meiner Behinderung noch von meinen Komplexen mein Leben bestimmen zu lassen. Die Wahrheit ist aber, dass ich ohne diese Komplexe und ohne meine Behinderung, bestimmt nicht diesen Elan hätte, unbedingt mehr erreichen zu wollen, als andere. Doch anders als früher tue ich das heute aus den richtigen Gründen. Ich tue es für mich und mein Leben, nicht für die Bestätigung der anderen. Wenn ich so wahrgenommen werde, wie ich bin, ist das toll und wenn ich nur so angesehen werde, weil ich im Rollstuhlsitze, ist es mittlerweile auch ok für mich. Das war für mich ein langer Weg, bis ich zu dieser Erkenntnis gekommen bin. Aber heute weiß ich, dass ich nicht von allen Menschen erwarten kann, mich so anzusehen wie ich bin. Viele Menschen werden auch aufgrund von Äußerlichkeiten beurteilt. Warum soll es bei mir eine Ausnahme geben?
Meine Minderwertigkeitskomplexe sind meine Komplexe, ich muss damit meinen Frieden schließen und nicht andere. Umso früher man auf diese Erkenntnis kommt, umso mehr ist man im reinen mit sich selbst. Komplexe müssen nicht immer negativ sein. Es ist nur wichtig zu wissen, warum man Sie hat und was der einzelne daraus Positives schöpfen kann.